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Modernity von Remedios Varo – Museum Nacional Centro de Arte Reina Sofia

(Die Brücken lösen sich auf. Die Züge, unaufhaltbar)

Das erste Mal in eine Stadt zu reisen, das erste Mal eine Stadt zu verlassen:
Das erste Mal aus einer Metro Station in die Stadt steigen, das erste Haus, das man sieht, die ersten Menschen. In einer Bar ein Bier bestellen, mit den Nachtschwärmen durch die Gassen schwimmen. Treiben lassen. Später in einer dunklen Straße, in einem alten Gebäude, in einem Hotelzimmer verschwinden.

Der Sound.
Der Geruch.
In jeder Stadt stinkt der Müll anders.

Abreise (im Auto z. B.), eine Hand auf dem Knauf der Kupplung, die andere auf dem Lenkrad oder als Mitfahrer auf der Rückbank, Stirn am Fenster – die Bewohner stehen vor ihren Läden, warten an den Ampeln, spazieren auf den Bürgersteigen. Oder mit Zügen – Abschiede Unbekannter auf Bahnsteigen, letzte Kaffees an Stehtischen. Oder mit der U-Bahn – Menschen steigen aus, steigen ein, je näher man dem Flughafen kommt, desto mehr Koffer im Wagon.

Das erste mal in eine Stadt zu reisen, das erste Mal eine Stadt zu verlassen, ist wie vor einem Aquarium zu sitzen und sich zu fragen, ob die Fische mit anderen Fischen in anderen Aquarien kommunizieren können. Das erste mal in eine Stadt zu reisen, das erste Mal eine Stadt zu verlassen, ist wie Landheimfahrt nur ohne Schule – oder mit Schule aber zum tausendsten Mal. Das erste Mal in eine Stadt zu reisen, heißt das Nie-dort-gewesen-sein hineintragen. Aber auch die Welt einwenig gemütlicher einrichten: wie das Erkunden von noch unbewohnten Zimmern in einem neuen Haus.

Und wenn beim Verlassen der Stadt, auf dem Weg zum Bahnhof oder Flughafen (auch diesmal um das Verschwinden zu kultivieren) Musiker Melodien durch U-Bahnschächte hallen lassen (insbesondere, wenn sie Nothing Else Matters spielen als wäre es ein Lied von Neil Young), dann ist das der Soundtrack meines Abschieds.
Meiner Ankunft.

(01.11.10/ 02.11.20 Madrid/Berlin. Danke an die Musiker der Station Cuatro Caminos)

Freiburg-Günterstal, Foto: ich

Sie sagte, ihr Mann sei Musiker gewesen und sie wisse, der Geiger auf Konzerten habe zwar Notenblätter vor sich liegen, doch lese er niemals ab. Er spiele par coeur.
Ihre Notenblätter, sagte sie, seien die Werke in der Originalsprache, sie stehe davor und schreibe nicht, sondern spreche die Texte ins Deutsche – auch sie aus dem Herzen.

Der Übersetzer ist ein Interpret, die Sprache sein Instrument. Er spielt die Poesie großer Dichter und Erzähler auf seiner Sprache wie ein Musiker das Werk eines Komponisten auf seinem Instrument.

(21.07.10, Freiburg, nach einem Treffen mit Swetlana Geier)

(veröffentlicht heute in der Badischen Zeitung)

Als Kind hat man ihm einen Baukasten geschenkt. Seit dem baut Franz Demattio. Und wenn kleine Zinkfiguren ein Eigenleben hätten und Fabriken errichteten um industrielle Revolution zu spielen, Demattios Dampfmaschinen könnten bis zu hundertfünfzig Minifabriken mit Energie versorgen.

Im Keller seines Hauses befindet sich die Werkstatt, sein Atelier. Im Fenster der Werkstatt sieht man am Ende einer saftigen Wiese die Gemäuer einer Fabrik. Hier ist er vor sechsundsiebzig Jahren, im Jahre 1934, die Ausbildung zum Maschinenbauer angetreten, an einer Drehbank – eine Maschine, die dazu dient aus Metallklötzen die feinsten und präzisesten Zahnräder und Schrauben zu schleifen. Eines Tages, es möge Zeit kosten, Jahre, eines Tages, würde er eine eigene Drehbank besitzen und Schrauben und Räder nur noch für seine eigenen Kunstwerke schleifen.

Der Vater Demattio war 1895 mit leeren Taschen, auf der Suche nach Arbeit aus Italien aufgebrochen und über St.Gallen in die schwarzen Wälder gelangt. Von 1916 bis 1918 hat er mit österreichischem Pass im Ersten Weltkrieg gedient und danach die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt. Die Kinder, die bis dahin schon zur Welt gekommen waren, wurden automatisch im Antrag mit vermerkt. Es dauerte zwei Jahre, bis die Familie 1920 endlich eingebürgert wurde. Allein der kleine Franz, der 1919 geboren wurde, also nach der Antragstellung und vor der Bewilligung, war nun mehr weder Österreicher, noch Deutscher, noch Italiener.

Im Dritten Reich hielt man ihn dann für deutsch genug, um ihn einzuziehen. So zog Demattio in den Krieg und sah seinen Vater nie wieder. Als er zurückkehrte und 1946 heiraten wollte, befand man ihn allerdings nun doch nicht für deutsch genug und wollte ihm just keine Staatsbürgerurkunde ausstellen. Es muss seine sympathische Art gewesen sein, die dann eine Neustädter Beamtin dazu bewegt hat, ihn flugs und unauffällig – mit dem Zeigefinger auf den Lippen damit die Kollegen nichts mitbekommen – als Deutscher durch zu winken.

Als ausgebildeter Maschinenbauer wurde er im Zweiten Weltkrieg damit beauftragt Flugzeugmotoren zu warten. Bei dieser Arbeit begegnete er seiner großen Liebe. Die Augen leuchteten, kindliche Freude lag im Gesicht, die Finger fasten um die Zylinder wie seiner Zeit auf dem mütterlichen Küchentisch um das Material aus dem Baukasten, da war er: Der Sternmotor. Der Sternmotor befand sich bei den Flugzeugen aus den Vierziger Jahren unmittelbar hinter dem Propeller und sieht in der Tat aus wie ein Stern, der an jedem Fuß einen Zylinder trägt.

Als Franz Demattio, Jahre später in Rente, tagnächtlich an seinen Modellen fräste, Nachbildungen von Maschinen mit schönen Namen wie Galloway oder Steeper zeichnete, plante und fertigte, erschuf er auch einen Sternmotor. Diesmal aber aus dem Gedächtnis: Ein Modell, das echter ist als sein Original – Kunst eben.

Demattios Sternmotor

Tüftler, wie er sind es, so sagt Jürgen Holz, ein engagierter Bewohner Eisenbachs, die dieser Region ihren Charakter gegeben und sie so stark gemacht haben. 1979 war es endlich soweit. Ein Traum ging in Erfüllung Franz Demattio konnte sich eine eigene Drehbank leisten.

Ich sehe ihm dabei zu, wie er mit der Hand über die wertvolle Drehbank fährt und denke: Die so genannte „zweite Generation“ – die Kinder der Einwanderer – haben in den Kellern der Gesellschaft schon längst an den sozialen Zahnrädern mitgefräst. An den Turmuhren unserer Dörfer und Städte schlägt die Stunde einer neuen Zeit.

Heute mag er alt geworden sein – ein bescheidener Buckel beult aus der blauen Meisterjacke –, aber nicht weniger Präzise. In Millimeter großes Jungsilber fräst er Gewinde und Kanten, die unabdingbar sind für die Modelle. „Mitunter“, sagt er, „braucht es bis zu einem Jahr, bevor eine Dampfmaschine fertig gebaut ist.“ Während er spricht, trägt er das freudige Baukasten-Lächeln derer im Gesicht, die es nie verlernt haben sich zu begeistern.

Mein neues Leben wird kurz sein. Die Länge eines Liedes. Oder. Nur ein kleiner Teil eines Liedes? Eine Sekunde? Gesungen von einer Frau, die sich (in dieser einen Sekunde) mit ihrem ganzen Dasein in dieses Lied stürzt. Kurz danach steht sie vielleicht schon an der Bar der Konzerthalle oder des Backstage und scherzt. Mich gibt es dann (wieder) nicht mehr. Auch dieses Leben – beendet.
Während sie auf der Bühne sitzt und in die Tasten ihres Klaviers schlägt und die Tasten ihres Klaviers liebkost und ins Mikrofon haucht und ins Mikrofon kreischt, bin ich ganz Klang.
Ich möchte als Klang wiedergeboren werden. Auf einem Konzert: billig und trotzdem nicht ausverkauft. Mit dreißig Gästen oder weniger. Von diesen Dreißig hört vielleicht die Hälfte nur zu und von dieser Hälfte ist vielleicht die Hälfte berührt; (von der Hälfte die Hälfte also unberührt). Und unter den Berührten gibt es einige wenige – vielleicht einen nur oder eine –, die sind ganz bei mir. Ganz bei mir. Und Dann. Klingt der letzte Ton aus. Das war mein nächstes Leben.

für Attila. Ruhe in Frieden

Urteilen über andere bedeutet gleichsam auch und gar mehr noch, implizit und oft unbewusst, ein Urteilen über uns selbst. Die Dinge bleiben vielleicht unberührt von unserer Sichtweise, doch wir selbst kommen zum Sein, in dem wir sie auf unsere Art sehen. Was wir dunkel und hässlich wähnen, ist vielleicht die eigene Dunkel- und Hässlichkeit, was wir als kümmerlich betrachten, die eigene Armut. Aber auch das schön genannte, mag nur eine Hülle sein, ein Mantel, zu verdecken unsere schmerzliche Schönheitsferne.
Von den Urteilen können allein die bescheidenen erst eine ehrliche Tendenz aufweisen – von Ehrlichkeit als solche sei gar nicht gesprochen. Ein bescheidenes Urteil ist nichts weiter als ein Zwischenstop, immer bereit revidiert und hinterfragt zu werden, im stets langsamen, selten zu vollendenden und ewig mühsamen Versuch zu verstehen.

(Seven Seconds, Neneh Cherry und Youssou N’Dour)

Vielleicht sind es wirklich nur sieben Sekunden.
Wir erblicken das Licht der Welt. Wir sind nackt. Wir sind nicht schwarz, nicht weiß, nicht Arbeiter, nicht Professoren, haben keinen sog. Migrationshintergrund, sind nicht schlau, nicht dumm, wir sind nicht dies und das. Wir sind. Sieben Sekunden lang sind wir.
Sieben Sekunden frei von Unterdrückung, sieben Sekunden stilles Sein.
Und dann.
Ein Arzt hält uns in den Händen, eine Hebamme, ein Pfleger, eine Mutter. Man sieht uns an. Man spricht uns zu. Man reicht uns weiter.
Der erste Blick schon, der uns trifft, die erste Berührung, erzählt eine Geschichte. Und der Fall beginnt.
Es gab eine Zeit, eine kleine Zeit davor. Vor dem Fall. Es muss sie gegeben haben. Wie fühlte sie sich an? Wie lange währte sie?
Zwei Sekunden? Sieben? Eine Minute? Fünf? Einen Tag?
Wie lange dauerte es, bis etwas normal wurde, bis etwas anders wurde?
Man schult uns.
Man schult uns um.

Alles bekommt einen Namen, alles eine Zeit. Das dreißigste Jahr. Das vierzigste Jahr. Künstliche Zäsuren in einem Leben.
Die Serviette auf den Schoß legen beim Essen.
Unangenehmes Schweigen vermeiden.
Arbeiten. Des Tags und des Nachts. Bücher lesen. Formeln lernen. Telefonieren. Mailen. Nicht. Ablenken. Lassen. Alles. Nur. Das. Nicht.
Immer grad aus, immer klar, immer mit dicker Haut.
Wie dick ist sie nach sieben Sekunden?
Nach sieben Jahren, nach siebzehn, siebenundzwanzig?
Sortieren. Was braucht es, was braucht es nicht? Was hemmt, was beschleunigt? Was ist Sprungbrett, was Last?
Nicht hinschauen, wo es weh tut. Das. Könnte. Ablenken. Und. Das. Wollen. Wir. Nicht.
Das, was wir da nicht mehr spüren wollen, sind die letzten Atemzüge des Kindes vor der siebten Sekunde.

1 Akazienstraße

In der Akazienstraße in Berlin Schöneberg gibt es mindestens zwei Kaffee Rösthäuser, von denen man sagt, dass ihr Kaffee zu dem besten Europas gehört. Dieses Lob mag überschwänglich sein, doch ist es tatsächlich ein besonderer Genuss an sonnigen Nachmittagen nach dem Essen in der Schönheit alter Berliner Hausfassaden einwenig Ruhe zu finden und den Kaffeeduft einzuatmen.

Es handelt sich um die beiden Cafés Doubleeye und um Da Capo, deren Räumlichkeiten so knapp bemessen sind, dass es kaum möglich ist, den Kaffee drinnen zu genießen; man muss draußen schlürfen, im Regen wie im Sonnenschein. In Doubleeye gibt sich das Publikum dem fashen Namen entsprechend etwas jünger und trendiger. Man trifft da z.B. junge, nicht selten prominente, Mütter an, die mit Hund und Kind auf kleinen, von einer Kita gespendeten, Holzstühlen sitzen.

Ich trinke meinen Kaffee meist bei Da Capo. Eine Zeit lang besuchte ich täglich das Rösthaus. Immer ungefähr zur gleichen Uhrzeit, nach der Mittagspause. Der Herr an der Theke erkannte mich nicht ein einziges Mal wieder. Nie.

Dabei ist die Akazienstraße überschaubar. Sie gehört gewiss zu den besonderen Straßen Berlins, wohl auch zu den bekannteren, ist aber noch längst nicht so touristisch wie die Oranienstraße, geschweige denn die Oranienburger, ja noch nicht einmal wie die Bergmannstraße. Auch ist sie keineswegs so kommerziell wie der Kurfürstendamm mit Mädels in High-Heels und Jungs, die sich Streifen in die Augenbrauen rasieren (mit Anfang zwanzig habe auch ich dort den einen oder anderen Nachmittag auf der Suche nach Glück verbracht und bin mitunter sogar Mal fündig geworden) oder die Friedrichstraße mit den haushohen Plakaten und Männern in Anzügen und Frauen mit Blazern.

Nein, in der Akazienstraße gibt es hauptsächlich kleine Geschäfte, die, wie Doubleeye und Da Capo, vermutlich die letzten ihrer Art sind – in einer Welt der ökonomischen Nordamerikanisierung (oder sollte man sagen Londonisierung?). Gleich am Anfang der Straße, ein Plattengeschäft für Klassik und Jazz. Man findet dort Raritäten. Chamissos bzw. Schuhmanns Frauenliebe und –leben gesungen von Waltraud Meyer oder die Matthäus Passion aus der Kehle von Marian Anderson oder Alben der Princess of Jazz Aziza Mustafah Zadeh. Einige Häusernummern weiter: das Bilderbuch Café mit hohen Bücherregalen, wo man Jack London lesen kann, um das Warten zu überbrücken („Das Warten überbrücken“, welch Illusion) und einem Flügel hinten, der jedem Sonntagspianisten zur Verfügung steht. Wieder einige Häusernummern weiter: die Akazien-Buchhandlung, wo man z.B. W.G. Sebald und die Übersetzung der Werke Ahmet Hamdi Tanpınars in den Regalen findet, jedenfalls nicht Dan Brown. Die portugiesische Weinerei an der Ecke, Künstlerbedarf, sogar einen Schuster gibt es da noch. Ich weiß nicht, wie sich diese Geschäfte halten. Sie schaffen es nicht alle. Das alte Café an der Ecke Hauptstraße/Akazienstraße wurde erst (nämlich zur Fußball WM 2006) von einem Wettbüro für Sportwetten und dann von Starbucks ersetzt. Niemand, den ich gefragt habe, erinnert sich an seinen Namen.

Um dieses Vergessen geht es mir.

Der Kaffeehausbesitzer oder zumindest der Mann, der dort arbeitet, hat mich jeden Tag vergessen. Er hat Kaffee für mich durch die Maschine gezogen, in eine kleine grüne, orange oder weiße Espressotasse geschäumt, eine mit Schokolade überzogene Kaffeebohne und einen Löffel zum Umrühren auf die Untertasse gelegt und mich angelächelt. Ich habe zurück gelächelt und den Löffel wieder weggelegt, weil ich meinen Espresso schwarz trinke. Jeden Tag.

Dabei bin ich an manchen Tagen mehrmals dort vorbei gelaufen. Wenn ich zum Copyshop musste, um etwas auszudrucken. Oder wenn ich ein Chicken Tikka Masalla oder einen Schawarma essen wollte. Vor Da Capo verlangsamte ich meinen Schritt. Manchmal saß der Herr draußen und ich suchte Blickkontakt. Wenn er drinnen hinter der Theke stand, schaute ich rein in der Hoffnung, wir würden uns zu winken. Wir winkten uns nicht zu.

Einmal sah ich ihn bei der Post. Er stand vor mir in der Schlange, genauso wie ich, mit einem Abholschein in der Hand. Er drehte sich um – womöglich aus Neugier darüber, wie viele Menschen sich nach ihm angestellt hatten. Unsere Blicke trafen sich. Wir schauten uns in die Augen. Er verharrte länger in dieser Haltung als es sich für Unbekannte geziemt. Die Lippen bewegten sich. Gleich würde er etwas sagen. „Kennen wir uns?“, „Sind wir uns schon mal begegnet?“, vielleicht sogar: „Hallo, wie geht es ihnen?“ oder „wo waren Sie denn diese Woche?“ oder „Kommen Sie später auf einen Kaffee vorbei?“

Die Lippen bewegen sich. Ich sehe ihn voller Erwartung an und denke mir, Zuhause ist, wo du deinem Kaffeeröster bei der Post begegnest. Er öffnet den Mund etwas, am Eckzahn klebt ein Kaugummi, er schiebt ihn mit der Zunge zurück unter die Backenzähne, schielt an mir vorbei als hätten wir uns nicht eben grade angesehen und kaut. Dann dreht er sich um.

Auch ich hätte ihn ansprechen können. Vielleicht hatte er mich sogar erkannt und erwartet, dass ich etwas sagte. Ich sagte nichts.

Ob er sich wohl an den Namen des alten Eckcafés erinnerte? Wahrscheinlich nicht.

Starbucks hatte uns aufgekauft. Ohne einen Cent zu bezahlen und ohne sich die Mühe zu machen, die Corporate Identity anzupassen. Wir hatten uns von alleine angepasst.

So fängt es an. Zuerst erkennt man sich nicht. Dann schließen die Geschäfte.

2 Eisenbach

Trotz Eile und Zeitverzug ließ ich es mir nicht nehmen, ein letztes Mal den Kaffeeduft bei Da Capo einzuatmen, bevor ich mich auf den Weg in die schwarzen Wälder machte.

Solche kleinen Verzögerungen sind es, die dazu führten, dass ich erst gegen Nacht aufbrach. Niemals will ich meine Bereitschaft verlieren für solche kleinen Verzögerungen ein Nachtfahrer zu sein.

Die Wirtin und ihr Koch

Gegen drei Uhr in der Früh machte ich Halt in Bayreuth. Am Nachmittag des nächsten Tages kam ich in Eisenbach an. Ich habe die alte Gewohnheit – aus den Jahren noch, in denen ich versuchte als Reiseleiter über die Runden zu kommen –  nach Reisen einen Begrüßungsdrink zu mir zu nehmen (auch eine dieser kleinen Verzögerungen), bevor ich mich wirklich angekommen wähne.

Ich stellte den Wagen vor die Garage am Oberen Herrenberg und lief den Berg wieder hinunter zur Eisenbachstube. Ich war im Dezember schon einmal hier gewesen, damals lag Schnee auf allen Hügeln und Baumwipfeln. Jetzt schien die Sonne. Wir hatten April.

Ich setzte mich an einen Fensterplatz und bestellte ein kleines Bier. Die Wirtin lächelte mich an und sagte „schön Sie wieder zu sehen.“

Ich war sprachlos und etwas verlegen, dass ich gleich mein Bier bestellt hatte, ohne sie zu fragen, wie es ihr ergangen sei, seit unserer letzten Begegnung. Gleichzeitig handelte es sich womöglich um eine Verwechslung.

Ich sagte: „Danke, schön auch Sie wieder zu sehen. Das Essen war köstlich gewesen.“

Darauf hin stieß sie ihr unverkennbares, abgehacktes Lachen aus – einwenig wie das Klopfgeräusch eines Spechts – und sagte: „Ochsenbäckle!“

Sie erinnerte sich doch wirklich an das Gericht, das ich an einem Dezemberabend vor vier Monaten bei ihr bestellt hatte.

Gestern Abend orderte ich Maultaschen in dem Restaurant am Kirnbergsee. Eine junge Frau servierte, wünschte mir guten Appetit und räumte später ab. Ich bat um die Rechnung, bezahlte und war schon im Begriff aufzustehen, da fragte sie:

„Waren sie schon einmal hier?“

Ich setzte mich wieder. In der Tat war ich schon einmal dort gewesen. Vor zwei bis drei Monaten. An einem kalten, regnerischen Tag. Damals war ich glatt rasiert und trug einen Parka. Jetzt waren die Haare länger, ich trug einen Bart und eine Sonnenbrille. Ich hätte mich selber nicht wieder erkannt, wenn ich mir auf der Straße begegnet wäre. Womöglich hätten wir uns kurz angesehen, ich und ich, hätten dann den Blick abgewandt und jeder wäre weiter seines Weges gegangen.

„Irgendwann im April vielleicht? Oder Mai?“

Ich nickte.

„Ja richtig“, sagte sie, „sie hatten einen schwarzen Tee bestellt.“

„Sie erinnern sich!“, sagte ich.

Sie lächelte.

„Bis bald“, sagte sie.

„Bis bald“, sagte ich.

3 Versuche

Die Zeiten änderten sich. Vor den Dörfern, auch in den schwarzen Wäldern, hatte man bereits die goldenen Schwingen des McDonalds Emblems gehisst und zum Wahrzeichen kleiner Städte gemacht. Doch – woran es auch liegen mag, an der frischen Luft etwa?  Doch nur zufall? – hier beherrschten noch einige die Kunst des Erinnerns.

Wenn ich das nächste Mal – zurück in Berlin – in der Akazienstraße sitze und die Hausfassaden gegenüber betrachte, während der Kaffe aus der kleinen Tasse in meinen Händen dampft, werde ich den Kaffeeröster fragen, wie es ihm ergangen ist, seit wir uns zuletzt gesehen haben. Und ob er vielleicht weiß, wie das Eckcafé Hauptstraße/Akazienstraße hieß, bevor es zum Wettbüro und dann zu Starbucks wurde.



Die herrschende ökonomische Lehre versteht sich als eine Theorie der Einzelentscheidungen. Dabei setzt sich das Wort Ökonomie bekanntlich aus Oikos, griechisch für Hausgemeinschaft und Nomos, griechisch für das Gesetz, zusammen. Dem Wortlaut zu Folge geht es also wenigstens gleichermaßen um den Einzelnen sowie auch um das Allgemeine, das Gesetz. Die Bezugnahme auf die Etymologie ist natürlich kein Argument – aber ein Vorschlag. Wenn es uns nicht nur um isolierte Präferenzen von Einzelnen geht, sondern um deren sozialen und historischen Kontext, dann bedeutet Wirtschaftskrise auch Gesellschaftskrise. Und zwar nicht nur weil das eine sich in dem anderen begründet – etwa soziale Unruhen in Verarmung –, nein, beides muss zusammengedacht werden und ist so betrachtet nicht mehr zu trennen.

Inhaber und Geschäftsführer der Grieshaber GmbH für Feinmechanik Michael Grieshaber lud mich ein, sein Oikos zu besuchen. Er führte mich durch die Abteilungen, wo Zahnräder, Ritzel, Schnecken und Triebe gedreht, gefräst und geschliffen wurden. Wir glitten wie auf Schlittschuhen über den öligen Boden der Fabrikhalle, sahen in großen Maschinen kleine Roboterarme noch kleinere Metallstücke verarbeiten, die dann zum Teil sonnenblumenförmig in Plastikkörbe kullerten und überzogen von Maschinenölschlieren glänzten.

Später bestellten wir Hefeschnaps in einem Schwarzwaldhaus mit niedriger Holzdecke und einer großen Wanduhr mit schwerem Pendel. Wir unterhielten uns über Arbeit, über Familie, über den Euro, über Schlaf – den tiefen und den ruhelosen. Wir unterhielten uns über Zeiten, in denen man Entscheidungen treffen und mit getroffenen Entscheidungen umgehen lernen muss. Der Kalender verkündete: Mitte 2010; wir hatten Ideen und Perspektiven, die Krise der Gesellschaft, von der der Fall der Banken nur ein kleiner Teil ist, war noch nicht überwunden.

(Veröffentlicht in der Badischen Zeitung)

Ich stellte meinen Kopf aufs Regal. Er rollte wieder herunter – ein dumpfer Knall auf den Dielen.
Ich stellte ihn auf den Tisch, mit dem Hals in die Vase. Konnte aber nicht mehr schlafen und nicht mehr arbeiten, weil er mich anstarrte. Schließlich quetschte ich ihn in den Schrank. Jetzt fliegt er mir jedes Mal entgegen, wenn ich die Türen öffne.

Anrufung Goethes

Im Kampf gegen den Tod ruft Canetti Goethe an. Er ist sich nicht sicher, ob er siegen wird: „wenn ich trotz allem überleben sollte, habe ich es Goethe zu verdanken“.

„Selig, wer sich vor der Welt/ ohne Hass verschließt“, sagte der junge Johann.
„Das Ausschließen der Welt, von Zeit zu Zeit so wichtig, ist nur erlaubt, wenn sie mit umso größerer Gewalt wieder zurückflutet.“, antwortete der alte Elias.

Der eine war kürzlich von seiner Italienreise zurückgekehrt, hatte die Gardine vor dem Kutschenfenster zur Seite gezogen und während sich die harten Räder über holprige Wege drehten, den Mond über Berge und Täler scheinen sehen. Er rauschte aber alleine „dem Fluss entlang“, schien den Glauben an sein Glück zumindest in diesem Moment verloren zu haben. Er wusste zwar, wo zu suchen. Vorerst aber nicht wie zu finden. Im „Labyrinth der Brust“.
Der andere hatte sich im Jahrhundert des Todes die Verachtung des Todes zur Berufung gemacht. Ihm geht es in der Abkehr von der Welt nicht um Seligkeit. Ihm geht es um Transformation – danach soll größeren Fluten entgegen getreten werden. Sein Ton ist kühl und sachlich. Er stellt Bedingungen auf: Keine Abkehr ohne Rückkehr.

(Zitate aus J. W. Goethe, „An den Mond“, 1777 – 1789 und Elias Canetti, „Die Provinz des Menschen“ 1942 – 1972)

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